Barrierefreiheit: Leitstreifen und Bodenleitsysteme

Von Rillenplatten bis zum Grazer Modell: Alles über Leitstreifen und Bodenleitsysteme und ihre Anwendung für Menschen mit Sehbehinderung.
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Barrierefreiheit: Leitstreifen und Bodenleitsysteme

Leitsysteme und Blindenleitsysteme sind ein wesentliches Kapitel in der Gestaltung einer zugänglichen städtischen Umwelt und in der Unterstützung der Mobilität von Menschen mit Sehbehinderungen. Ihre Entwicklung reicht mehrere Jahrzehnte zurück und ist Ausdruck des Bestrebens, eine integrative Gesellschaft zu fördern.

Bodenleitsysteme wurden 1965 von dem japanischen Ingenieur Seiichi Miyake erfunden, der sie ursprünglich für einen blinden Freund entwickelte, den er persönlich kannte. Sein Engagement und die daraus resultierende Innovation legten den Grundstein für die weite Verbreitung dieser Systeme. In der Folge haben sich Bodenleitsysteme weltweit verbreitet und sind zu einem festen Bestandteil im öffentlichen Raum geworden, der blinden und sehbehinderten Menschen mehr Unabhängigkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum ermöglicht.

In Deutschland haben Blindenleitsysteme seit Anfang der 1980er Jahre, als die ersten Bodenindikatoren verlegt wurden, an Präsenz gewonnen. Institutionalisiert wurden diese Bemühungen unter anderem durch die Veröffentlichung der ersten DIN-Norm für Bodenindikatoren im Jahr 2000, bekannt als DIN 32984. Die DIN-Normen legen fest, wie Bodenindikatoren beschaffen sein müssen, um eine effiziente und sichere Anwendung zu gewährleisten. Durch diese Normung wurde die Qualität und Kontinuität der Leitsysteme sichergestellt und ein einheitliches Verständnis für die Anforderungen an Bodenindikatoren geschaffen, um den Bedürfnissen blinder und sehbehinderter Menschen angemessen Rechnung zu tragen.

Die Einführung dieser Systeme und die kontinuierliche Weiterentwicklung der entsprechenden Technologien haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich Menschen mit Sehbehinderungen heute selbstständiger und sicherer im öffentlichen Raum bewegen können. Diese Entwicklung spiegelt nicht nur den technischen Fortschritt wider, sondern auch die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung der Bedeutung von Barrierefreiheit und Inklusion.

Aufbau und Funktionalität von Bodenleitsystemen

Der Kern eines Bodenleitsystems besteht aus zwei Hauptelementen: Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder. Leitstreifen dienen der Orientierung und Führung. Sie leiten blinde und sehbehinderte Menschen zu wichtigen Zielen wie Ein- und Ausgängen, Treppen, Aufzügen und markieren gleichzeitig Wege über größere Flächen wie z.B. Plätze. Dabei helfen sie auch, Hindernissen auszuweichen und zu verhindern, dass sehbehinderte Menschen in Gefahrenbereiche geraten.

Aufmerksamkeitsfelder erfüllen im Kontext von Bodenleitsystemen vielfältige Zusatzfunktionen und sind auf unterschiedliche Situationen und Anforderungen abgestimmt. So weisen beispielsweise Abzweigfelder auf Richtungsänderungen oder Abzweigungen hin und unterstützen die Entscheidungsfindung auf dem Weg. Richtungsfelder zeigen an Straßenkreuzungen die zu überquerende Richtung an, um eine sichere Orientierung über Straßen hinweg zu ermöglichen. Auffindestreifen machen auf den Beginn eines Blindenleitsystems oder auf seitlich gelegene Ziele wie Haltestellen aufmerksam, während Einstiegsfelder den genauen Einstiegsbereich an Bushaltestellen oder ähnlichen Verkehrsknoten markieren. Warnfelder erfüllen eine wichtige Schutzfunktion, indem sie auf mögliche Hindernisse aufmerksam machen. Auffangstreifen schließlich grenzen begehbare von nicht begehbaren Flächen ab und erhöhen so die Verkehrssicherheit, z.B. an Bahnsteigen.

Die Ausführung dieser Elemente kann sehr unterschiedlich sein. So bestehen Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder häufig aus weißen oder schwarzen Platten, um einen starken Kontrast zum umgebenden Bodenbelag zu erzeugen. Reicht dieser optische Kontrast nicht aus oder fehlen taktile Unterschiede, werden kontrastreiche Begleitstreifen eingesetzt, die neben den Bodenindikatoren verlegt werden und so für eine bessere Sicht- und Fühlbarkeit sorgen. Dabei spielen Material und Beschaffenheit eine wichtige Rolle: Rillenplatten mit ausgeprägtem Rillenmuster sind beispielsweise in Deutschland seit langem im Einsatz und fester Bestandteil der Normung, wobei neuere Entwicklungen wie breitere Rillen und trapezförmige Rippen eine noch bessere Ertastbarkeit mit Langstöcken bieten und somit die Führung und Orientierung visuell und haptisch erleichtern.

Diese Hilfsmittel ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen, Orientierungselemente mit dem Langstock oder auch mit den Füßen zu ertasten und sich so selbständig im öffentlichen Raum zu orientieren und zu bewegen. Ergänzende Einrichtungen wie Treppengeländer oder Aufzüge mit Braille- oder Pyramidenschrift sowie kontrastreich markierte Stufenkanten unterstützen ebenfalls die sichere und selbständige Fortbewegung im öffentlichen Raum. Das Hauptziel bei der Installation solcher Bodenleitsysteme ist die Schaffung einer durchgängigen Wegekette, die blinden und sehbehinderten Menschen die vollständige und selbstständige Nutzung des öffentlichen Raumes ermöglicht und damit ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fördert.

Technische Standards und Designs

Die DIN 32984 ist in Deutschland die zentrale Norm, die maßgeblich die Anforderungen an Bodenindikatoren beschreibt. Sie legt die Eigenschaften von Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfeldern so fest, dass sie von Sehbehinderten und Blinden optimal wahrgenommen und genutzt werden können. Die Norm spezifiziert beispielsweise das Rillenmuster der Platten und die geeigneten Materialien. Außerdem wird festgelegt, wie breit die Rillen und wie hoch die Aufkantungen sein müssen, damit sie mit einem Langstock gut ertastet werden können. Mit neuen Fassungen der DIN-Norm werden technische Neuerungen eingearbeitet und bestehende Normen aktualisiert, um den sich ändernden Bedürfnissen und technischen Möglichkeiten Rechnung zu tragen.

Die Gestaltung von Bodenindikatoren hat sich im Laufe der Zeit verändert. Die ehemals schmalen Rillen, die mit den üblichen Stockspitzen nur schwer zu ertasten waren, sind zunehmend breiteren, trapezförmigen Strukturen gewichen, die eine bessere Tastbarkeit ermöglichen. Die Querschnittsform, die früher oft eine Sinuswellenstruktur aufwies, entwickelt sich zu geometrisch klar definierten Formen wie Trapezen, die einen höheren taktilen Kontrast bieten und damit die Navigationshilfe verbessern.

Auch die Gestaltung der Noppenplatten, die vielerorts für Aufmerksamkeitsfelder verwendet werden, ist ein Gestaltungsmerkmal. Diese sind so gestaltet, dass sie nicht nur mit dem Langstock, sondern auch mit den Füßen ertastet werden können. Die Form der Noppen, in der Regel Kugelkalotten oder Kegelstümpfe, wird so gewählt, dass eine maximale Tastbarkeit gewährleistet ist und gleichzeitig eine Warnfunktion erfüllt wird.

Neben den technischen Standards wird bei Bodenleitsystemen großer Wert auf die Gestaltung gelegt. Sie müssen nicht nur funktional sein, sondern auch ästhetischen Kriterien genügen und sich harmonisch in das Stadtbild einfügen. Farbkontraste sind dabei ein wichtiges Hilfsmittel, um die Auffindbarkeit der Leitlinien auch für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen zu unterstützen. In einigen Fällen werden Farben verwendet, um zusätzliche Informationen zu vermitteln oder um Leitsysteme für Sehende sichtbarer und damit bewusster zu machen.

Innovative Ansätze im Bereich der Bodenindikatoren umfassen auch die digitale Integration von Leitsystemen, bei denen z.B. durch Nahfelddienste wie NFC- oder RFID-Technologien zusätzliche Informationen direkt auf das Smartphone des Nutzers übertragen werden können. Diese fortschrittlichen Lösungen bieten Möglichkeiten für eine noch individuellere und umfassendere Unterstützung im Rahmen der Orientierungs- und Mobilitätsinfrastruktur für blinde und sehbehinderte Menschen.

Spezialisierte Lösungen und innovative Ansätze

Bei der Weiterentwicklung von Leit- und Orientierungssystemen werden spezialisierte Lösungen und innovative Ansätze eingesetzt, um den vielfältigen und teilweise gegensätzlichen Anforderungen der verschiedenen Nutzergruppen gerecht zu werden. Herausforderungen wie die Gestaltung von Fußgängerüberwegen verdeutlichen diese Notwendigkeit: Während für blinde und sehbehinderte Menschen eine deutlich ertastbare Bordsteinkante von mindestens 3 cm Höhe von entscheidender Bedeutung ist, um sicheren Halt zu finden und die Straße gefahrlos überqueren zu können, bevorzugen Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen oder Menschen mit Gehbehinderungen eine möglichst ebene Oberfläche ohne Absätze.

Die Stadt Graz in Österreich hat in Zusammenarbeit mit Blindenverbänden eine innovative Lösung für dieses Dilemma entwickelt, das so genannte "Grazer Modell". Es besteht aus einem System von Längsrillen, die in Gehrichtung verlaufen und 30 cm vor dem Übergang in ein System von Querrillen übergehen. Diese Querrillen signalisieren sowohl die Bordsteinkante als auch den genauen Querungsbereich und ermöglichen so eine sichere Orientierung für blinde Menschen, ohne eine Barriere für andere Nutzergruppen zu schaffen.

Diese Art der Problemlösung zeigt deutlich, wie wichtig der interdisziplinäre Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Stadtplanern, Normungsgremien und Vertretern von Betroffenengruppen ist, um Bodenleitsysteme nicht nur funktional und normgerecht, sondern auch im Hinblick auf die Bedürfnisse aller Bürger nutzbar zu gestalten.

Auch bei der Gestaltung längerer Leitwege spielen Rillenplatten eine wichtige Rolle, da sie durch ihre breiten Rippen, die mit Schuhsohlen oder Langstock ertastbar sind, eine gute Orientierung über größere Entfernungen bieten können. Diese Elemente können vor allem dort eingesetzt werden, wo lange gerade Strecken ohne besondere Hindernisse zurückgelegt werden müssen. Die haptische Wahrnehmung durch die Sohlen erhöht das Sicherheitsgefühl und kann das Gehen ohne visuelle Kontrolle deutlich erleichtern.

Die Stadtplanung verfolgt mit der Entwicklung und Umsetzung solcher spezialisierter Blindenleitsysteme das Ziel, einen weitgehend barrierefreien öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sich alle Bürgerinnen und Bürger sicher und selbstbestimmt bewegen können. Diese Systeme fördern somit nicht nur die Mobilität von Menschen mit Sehbehinderungen, sondern dienen auch der allgemeinen Verkehrssicherheit und leisten einen entscheidenden Beitrag zu einer inklusiven Stadtgestaltung.

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